08.03.2012

Voyeur


Schon als ich heute aufwachte und auf der Suche nach Frühstück in die helle Leere des Kühlschranks blickte, schien es mir, als wäre ich nicht allein in der kleinen Küche meiner Garçonnière. Beim Zähneputzen spürte ich, wie jemand die fahrigen Stöße der Bürste verfolgte und auch der tiefe Schnitt der Zahnseide in das Fleisch zwischen meinen Schneidezähnen wurde beobachtet. Auf dem Weg zur Uni, den ich, wie jeden Tag, Fahrrad fahrend bestritt, versuchte ich meinen Beobachter durch abruptes Umdrehen abzuschütteln, was zu Hupen, Reifenquietschen und möglicherweise einem Blechschaden führte. In der Vorlesung setzte ich mich in die letzte Reihe. Ausgeschlossen, dass mich jemand anstarren konnte. Mehrmals warf ich meinen Kopf ruckartig herum, musste mich aber jedes Mal von der totalen Nichtexistenz meines Beobachters überzeugen. Ich wurde halb wahnsinnig, als ich bemerkte, wie jemand auf die Narbe hinter dem linken Ohr blickte, die von einem kindheitlichen Schaukelunfall herrührte. Mit Schwitzen und Zittern überlebte ich die Lehrveranstaltung. Obwohl ich Übles ahnte, zwang mich das Gesetz der Natur zum Aufsuchen der Toilette. Vor dem Spiegel stehend wischte ich mir milchige Schweißperlen mit grünen Papierhandtüchern weg.
Ich werfe sie in den Müll und sehe mich um. Niemand? Schließlich halte ich es nicht länger aus, reiße meinen Hosenstall auf und springe vor ein beliebiges Pissoir. Ich greife an den Saum der Boxershorts, ziehe ihn nach unten, taste nach... Halt! Jetzt reichts! Was glaubst Du eigentlich, wer Du bist? Jetzt hör schon endlich auf mich anzustarren und such Dir etwas Anständiges zu lesen! Hiergeblieben! Jetzt bin ich am Zug. Ohne Dir zu verraten, wie ich dort hingekommen bin, stehe ich vor Deiner Tür. Ich weiß, Du bist nicht zu Hause. Zum Glück kenne ich mich recht gut mit Schlössern aus. Zuvor habe ich mir meine Bergschuhe angezogen. Die mit dem richtig groben Profil. Mit ihnen bin ich durch den kleinen Park gelaufen, den alle nur benutzen, um ihre Hunde Gassi zu führen. Ich bin in jeden einzelnen Hundehaufen getreten. Endlich ist die Tür offen. Deinen hässlichen Fußabstreifer benutze ich natürlich nicht. Mann, stinkt es bei Dir. Widerlich. Als erstes gehe ich in Deine Küche. Kann sein, dass ich schon ein paar Bier intus habe. Ich nehme den großen Topf und mache ihn voll. Dein Bett scheint recht weich zu sein. Ich hinterlasse braune Fußabdrücke. Ja, schau nur her! Mit Deiner Zahnbürste kratze ich den letzten Dreck von meinen Schuhen. Schau mich nur an! Ich grinse, wenn ich die Tür wieder hinter mir schließe. Lass Dir das eine Lehre sein. Du Voyeur! 

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